Use-Case 1: PKW-Frontklappe

Ziel des Use-Case PKW-Frontklappe ist eine ganzheitliche, durchgängige und vollständig digitale Beschreibung des Produktlebenszyklus am Beispiel einer PKW-Frontklappe zu demonstrieren. Dafür sollen die Teilbereiche Produktentwicklung und -entwurf, Fertigungsplanung und Digitale Fabrik sowie die virtuelle Inbetriebnahme digitalisiert und konsistent verknüpft werden. Basierend auf diesem digitalen Abbild soll zukünftig ein Framework entstehen, das eine effiziente Evaluation verschiedener Blechbauteil-Konzepte mitsamt der zugehörigen digitalen Fabrik ermöglicht.

Der gesamte Use-Case wird an den Hochschulen Ravensburg-Weingarten, Ulm und Albstadt-Sigmaringen sowie an der Universität Stuttgart bearbeitet. In Zusammenarbeit werden die folgenden Disziplinen erarbeitet:

  • Automatisierte digitale Synthese und Analyse von Frontklappen-Modellen
  • Automatisierte digitale Konzeptplanung der Fertigung von Blechteilen (Schwerpunkt Frontklappe)
  • Automatisierte digitale Generierung von Montageprozessen, -ressourcen und -anlagen (Schwerpunkt Blechteile)
  • Digital Twin und virtuelle Inbetriebnahme
  • Kopplung und Interoperabilität der digitalen Modelle zur ganzheitlichen Automation

Automatisierter digitaler Produktentwurf

Für die automatisierte Generierung der Produktgeometrie wurde ein Verfahren (in Form einer Entwurfssprache) geschaffen, welches ausgehend von eingegebenen Randbedingungen automatisiert graphenbasierte Produktmodelle erzeugen (Synthese) und gleichzeitig die entsprechenden Analysemodelle aufbauen kann. Der Prozess beginnt mit der Entwurfsraumdefinition aus den gegebenen Anforderungen und Randbedingungen. Dabei werden auch alle erforderlichen Funktionselemente und Fertigungsanforderungen als Randbedingungen berücksichtigt. Für die darauffolgende automatisierte Geometriesynthese stehen verschiedene topologische Strukturen zur Auswahl, welche hauptsächlich aus den Anforderungen an Festigkeit und Steifigkeit bestimmt werden. Alle genannten Eigenschaften sind in der entwickelten Entwurfssprache in Form eines UML-Klassendiagramms enthalten. Die Ausführung der Synthese ist mit Hilfe sog. Geometriefeatures modelliert, welche durch eine vordefinierte Abfolge von Punkt-, Linien-, Flächen-, Schnitt-, Positionierungs- und anderen Operationen die Geometriegenerierung ausführen. Wird für ein gegebenes Parameterset eine Produktgeometrie erzeugt, liegt diese spezifische Entwurfsvariante in Form eines Entwurfsgraphen vor. Aus diesen Daten können mit Hilfe speziell entwickelter Graphenalgorithmen und Schnittstellen vollautomatisch Simulationsmodelle (für Steifigkeitsnachweise oder Kopfaufprallsimulation) erzeugt werden. Die Auswertung dieser Simulationsmodelle gibt Auskunft über die Qualität der eingegangenen Randbedingungen, welche manuell verändert werden können. Die entwickelte Entwurfssprache ermöglicht damit einen (ausführbaren) teilautomatisierten iterativen Produktentwurf, dessen Dauer hinsichtlich der Geometrieerzeugung auf die Laufzeit des Datenverarbeitungssystems zusammenfällt.

Automatisierte digitale Fertigungsplanung

Für die digitale Fertigungsplanung soll mit Hilfe einer Entwurfssprache ein Tool geschaffen werden, in dem die Entwicklung des Produktionskonzeptes bis hin zur konkreten Layout- und Zeitplanung als Zusammenspiel von Mensch und Maschine möglich ist. Um die Bedienung der Entwurfssprache zu erleichtern wird eine App entwickelt, in der Benutzer verschiedene Prozessfolgen für die Fertigung eines konkreten Produktes hinterlegen können. Der Abstraktionsgrad der Prozesse kann dabei frei gewählt werden. Basis für die Prozessontologie sind hierbei die gängigen Normen DIN 8580 und folgende sowie VDI 2860, welche in Form eines UML Klassendiagramms hinterlegt wurden. Nach der Definition der erforderlichen Prozesse sollen geeignete Anlagen zur Umsetzung zugeordnet werden. Dies kann aktuell direkt durch den Ingenieur in der App erfolgen oder zukünftig automatisiert in der Entwurfssprache. Dafür kann auf eine im Projekt entwickelte Montageanlagenbibliothek zugegriffen werden. In der Entwurfssprache sind Algorithmen enthalten, welche die Optimierung über alle eingegebenen Prozesspfade und Anlagenkombinationen ermöglichen. Außerdem ist eine Layoutplanung hinterlegt, welche bereits bestehende Produktionsressourcen und –anlagen berücksichtigt. Bei Ausführung wird ein iterativer Prozess gestartet, in dem Prozesspfad- und Anlagenoptimierung durchgeführt sowie die anschließende Positionierung der Anlagen berechnet wird. Dabei beeinflussen sich Fertigungstopologie und Positionierung gegenseitig. Nach einer festgelegten Anzahl an Iterationen wird die bezüglich ausgewählter Parameter beste Fertigungsvariante ausgegeben.

Automatisierte digitale Generierung der Montage

Im Rahmen der Fertigungsplanung wurden über graphenbasierte Entwurfssprachen die für die Fertigung notwenigen Montageanlagen auf einem hohen Abstraktionsniveau erzeugt. Für die Untersuchung der Machbarkeit auf hohem Komplexitätsniveau wurde die Spann- und Greiferbaugruppen-Generierung herausgegriffen. Ein Ergebnis der Entwurssprache für Vorrichtungs- und Greiferkonstruktion ist die automatisierte Ableitung eines produktspezifischen Spann- und Fixierkonzeptes. Den Input bildet dabei das im Produktentwurf festgelegte Fertigungskonzept sowie parametrisierte Komponenten hohen Detaillierungsgrades. Die Entwurfssprache ermöglicht damit eine automatisierte Untersuchung des Zusammenspiels verschiedener Verbindungselemente und Fügefolgen. Weitere Parameter, welche teilautomatisiert untersucht werden können, sind die Zugänglichkeit und Kollisionserkennung zwischen Produkt, Vorrichtung und Betriebsmittel. Dafür werden die abgeleiteten Positionen der vorgelagerten Entwurfssprache für Fertigungsplanung verarbeitet. Output der Entwurfssprache ist eine speziell auf das eingehende Parameterset zugeschnittene Spann- und Greiferbaugruppen-Geometrie. Stellt sich das eingehende Parameterset als nicht valide heraus, muss eine Rückkopplung in die vorgelagerten Entwurfssprachen und eine Parameter-Nachjustierung stattfinden.

Digital Twin und virtuelle Inbetriebnahme

Ziel einer virtuellen Inbetriebnahme ist eine möglichst akkurate Abbildung eines Gesamtsystems als digitalen Zwilling, um die Systemfunktionen weitestgehend frühzeitig bereits am virtuellen Modell zu testen. Ziel der Entwurfssprache für die virtuelle Inbetriebnahme ist somit der Aufbau eines möglichst realitätsnahen cyberphysikalischen Systems, welches in der Lage ist, mit realen Programmen zur Steuerung von Maschinen und Anlagen zu kommunizieren. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Entwicklung von Modulen und Schnittstellen um vorhandene Systeme, die jeweils einen Teilbereich der virtuellen Inbetriebnahme abbilden können, interaktionsfähig zu machen. Die drei Hauptkomponenten sind der Design Compiler 43 zur Entwurfssprachenverarbeitung, die als “FlexISim“ benannte Unity3D-Applikation zur visuellen Darstellung der Simulation und die Software Virtuos für die Abbildung von physikalisch realitätsnahen Maschinenbewegungen. Kern der entwickelten Ergebnisse bilden die Schnittstellen zwischen den genannten Tools. Zukünftig sollen die Möglichkeiten in der Kommunikation mit echter Steuerungssoftware erweitert werden. Dafür sind aktuell Schnittstellen für KukaSim Pro und TwinCat in Entwicklung.

Kopplung und Interoperabilität

Eine speziell entwickelte Informationsarchitektur ermöglicht die separate und unabhängige Entwurfssprachenentwicklung an den einzelnen Standorten bei gleichzeitiger Sicherstellung der Interoperabilität im Gesamtmodell. Durch den Aufbau eines abstrakten Metamodells wird eine gemeinsame Semantik entwickelt und implementiert. Diese Semantik bildet die Basis auf der alle Einzelentwicklungen an den jeweiligen Standorten aufbauen. Kern ist dabei eine gemeinsame Ontologie, welche von allen speziellen Entwurfssprachen gleichermaßen gelesen, verarbeitet, generiert und ausgegeben werden kann. Im Gegensatz dazu werden für die Verarbeitung von domänenspezifischen (und von anderen Teilprojekten unabhängigen) Daten standorteigene Ontologien aufgebaut, welche ausschließlich von den jeweiligen Partnern gelesen und verarbeitet werden können. Diese Struktur ermöglicht eine sichere Einteilung in interne oder bestimmten Projektpartnern zugängliche bzw. öffentliche Daten. Weiterhin wird im abstrakten Metamodell ein spezielles Aktivitäten-Schema definiert, welches die Struktur für alle Entwurfssprachen vorgibt. Die Einhaltung dieser Struktur sowie die gemeinsame Semantik stellen den konsistenten und fehlerfreien Datenfluss zwischen den Entwurfssprachen der einzelnen Domänen (und / oder Standorte) sicher. Für die gesamtheitliche Ausführung aller Modelle können die beteiligten Entwurfssprachen in das Metamodell importiert und darin zusammengeführt werden.